martes, 31 de julio de 2007

Blutsverwandt

"Schliessen Sie Ihre Hand bitte zur Faust". Gehorsame befolge ich die Aufforderung der Krankenschwester und ahne schon, was als nächstes kommt: "Ihre Venen liegen zu tief, die sind schwer zu treffen". Gekonnt knetet sie an meiner Armbeuge herum, setzt die Nadel an - und trifft aufs erste Mal. Ich liege auf einer Liege im Keller des Polizeihospitals von Lima und schaue zu, wie mein Blut aus mir heraus- und in einen Beutel tropft.
Dass mein Blut etwas Besonderes ist, habe ich erst in Peru erfahren: ihm fehlt der Rhesus-Faktor, ist also Rhesus-negativ. Das ist in Deutschland nichts Besonderes, aber in Peru sind nur rund 1% der Bevölkerung Rhesus-negativ. Deshalb sind negative BlutspenderInnen überaus gefragt und wir Negativen sind sowas wie die Blaublütler unter ihnen.
So wie heute früh bin ich schon oft angerufen worden: ob ich nicht Blutspenden könnte, es handele sich um einen Notfall. Im Unterschied zum anonymen Blutspenden beim Roten Kreuz in Deutschland, weiss ich in Peru sofort, wer mein Blut bekommt. Heute ist es für eine 85-jährige Oma, Witwe eines Polizisten, mit einem gutartigen Gehirntumor, der bereits ihr Sehvermögen angegriffen hat. Seit 2 Wochen liegt sie im Polizeihospital - in Peru haben die Polizisten ihr eigenes Krankenhaus - und wartet auf ihre Operation. Die kann erst dann stattfinden, wenn ihre Verwandten genügend Blutspender gefunden haben, um die Blutbank des Spitals aufzustocken. Leider findet man die Rhesus-negativen Blutspender in Peru nicht immer in der Familie oder der Nachbarschaft. Deswegen bin ich Mitglied des "Clubs der Rhesus-Negativen": es ist eine Datenbank von freiwilligen Blutspendern, an die jeder gelangen kann.

Im Laufe der Jahre habe ich schon allen möglichen Menschen mein Blut gespendet:
einer jungen Frau, die nach einem Kaiserschnitt noch tagelang im Hospital liegen musste, bis ihre Angehörigen eine Blutspenderin gefunden hatten; einem 14-jährigen Mädchen mit Gehirntumor; einer 38-jährigen Friseuse mit Gebärmutterkrebs im Anfangsstadium, die erst mit ihrer Chemotherapie beginnen durfte, nachdem sie eine rhesusnegative Blutspenderin aufgetan hatte; einem 60-jährigen Krebspatienten. Fast immer lerne ich die besorgten und überaus dankbaren Angehörigen der Patienten kennen, denn die müssen sich um den Blutnachschub kümmern, damit ihre Liebsten behandelt werden.

Ausser ganz unterschiedlichen Menschen habe ich auf diese Art und Weise inzwischen fast alle staatlichen Krankenhäuser Limas kennengelernt. Deren Ruf ist im allgemeinen recht schlecht: alt, schlecht verwaltet und ohne Ausstattung seien sie. Nicht immer stimmt dies. Das Hospital Maria Auxiliadora am Südrand Limas erschien mir recht sauber und funktional, ebenso das staatliche Krebsklinikum. Heute dagegen hat es mich in den Keller des Polizeispitals verschlagen. Während mir das Blut abgezapft wird, schaue ich auf verrostete Rohre, die quer über die Decke laufen. Beim Herweg durch die Kellergänge werfe ich einen Blick in vorsintflutliche Waschräume, die Farbe blättert allenthalben und der Rost scheint durch. Der Arm wird mir mit einem Gummihandschuh abgebunden - weil es keinen Abbindeschlauch gibt ?
Rosa Dávila, die Tochter meiner Blutsverwandten, erzählt, dass die Apotheke im Spital nur wenige der ihrer Mutter verschriebenen Medikamente zur Verfügung hat. Den Rest müssen sie zukaufen. Wenn es nach ihrem Krankenhaus geht, ist es um die peruanischen Polizisten nicht gut bestellt und ich kann verstehen, dass die Korruption unter ihnen besonders grassiert.

Ob neues oder altes, sauberes oder schmuddeliges Krankenhaus: immer treffe ich auf eine Bürokratie ohnegleichen. Auch heute muss ich 15 Minuten warten, bis mir die 1. Blutprobe abgenommen wird, dann nochmals 90 Minuten, bis sie mir ein weiteres Röhrchen Blut abzapfen, um es auf HIV, Hepatitis, Hämoglobingehalt zu testen. Dann soll ich doch bitte nachmittags wiederkommen, zur eigentlichen Spende, wenn die Ergebnisse der Blutuntersuchung vorliegen. Und dabeist es bei mir besonders schnell gegangen: weil ich darauf gepocht habe, weil ich weisshäutige Ausländerin bin, weil ich Rhesus-negativ bin..... die Peruaner, die mit mir auf ihre Blutspende warten, sind schon stundenlang hier und zucken nur fatalistisch die Schultern, wenn ich sie dazu aufstacheln möchte, eine zügigere Behandlung einzufordern: "ja, in Ihrem Land ist das anders. Wir sind halt unterentwickelt". Wie die Unterentwicklung doch als Entschuldigung für alles herhalten muss...

Warum übrigens in Peru keine Blutbanken aufgebaut werden, so dass der ganze Blutspendezirkus bei Notfallpatienten überflüssig würde ? "Die Leute wittern sofort ein Geschäft, und wollen ihr Blut nicht gratis hergeben", sagt die Krankenschwester in der Blutbank zur Erklärung. Es ist genauso wie auch die Beziehungen hier im Grossen funktionieren: unter Verwandten und engen Nachbarn wird Solidarität geübt, ansonsten herrscht Misstrauen und Eigennutz.

Mein Blutbeutel ist voll. 10 Minuten muss ich noch auf der nackten Liege ruhen, bevor die Krankenschwester mich nach Hause gehen lässt. Mir geht es blendend, auch mit 250 Milliliter Blut weniger im Körper. Im Gegenzug habe ich wieder einen Blutsverwandten in Peru hinzugewonnen.

viernes, 27 de julio de 2007

Touristik- Tip Lima (I)



Wenn es in Lima kalt, neblig, feucht und dunkel ist wie in Deutschland im November, braucht man nur vier Stunden zu fahren, um strahlenden Sonnenschein und ein schmuckes traditionelles Dorf kennenzulernen: Huachupamapa (auf deutsch: verwaiste Wiesen) heisst das Dorf. Das Besondere: man kann dort Kondore in freier Wildbahn sehen.

Hinkommen ist ganz einfach: mit dem Bus oder Combi nach Chosica (das sind rund 1 Stunde Fahrt, Richtung Zentralanden). In Chosica fragt man nach der Plaza Echenique und den Bussen, die nach Huachupampa fahren. Jeden Morgen um 8.30 fährt der gemeindeeigene Bus hoch nach Huachupampa. Zuerst geht es gemächlich aufwärts bis zum Dorf Huinco und dessen Wasserkraftwerk. Danach steigt die Strecke steil an. Die Strasse ist eine Erdstrasse, immer hart am Abhang entlang. Nichts für sehr empfindliche Seelen. Die Aussicht ist dafür atemberaubend. Nach 3 Stunden Fahrt hält der Bus im Dorf Huachupampa. Das Dorf hat rund 130 Einwohner, drei kleine Lädelchen, ein öffentliches Telefon, Licht, eine neue sehr hübsche Plaza (siehe Bild), sehr viele traditionelle Häuser und ein ganz neues , sauberes und billiges Hostal, das im Gemeindebesitz ist. Das Dorf liegt auf knapp 3000 Meter Höhe, ist also nicht zu kalt, aber dafür sonnig! Und ich habe in dem kleinen Dorf 8 Abfalleimer gezählt - das muss die Hauptstadt Lima erst mal nachmachen.
Hauptattraktionen sind die Kondore sowie eine Inka-Burgruine. Beides mit einem guten 2-stündigen Fussmarsch zu erreichen. Gegen ein geringes Entgelt findet sich immer ein Dorfbewohner, der als Führer mitgeht. Die Gegend ist ideal zum Wandern und Ausspannen.
Wer näheres wissen möchte: die Gemeinde Huachupampa hat eine Website: www.munihuachupampa.gob.pe, Tel. (01) 361 1080

Auch zurück kommt man mit dem Gemeindebus: um 13 Uhr ist jeden Tag Abfahrt Richtung Chosica. Und hier noch ein Foto vom öffentlichen Waschplatz in Huachupampa, das Dach des Duschgebäudes ist den traditionellen Hüten der Dorfbewohner nachempfunden:

martes, 17 de julio de 2007

Mitten im Streik! Oder: nächtlicher Inka-Trail

Die Strecke Cusco - Puno ist das peruanische Gegenstück zur Autobahn München-Frankfurt in Deutschland: eine Hauptverkehrsstrecke im Süden des Landes, dicht befahren von Lastwagen, Bussen und dem einen oder anderen Pkw. 6 Stunden Busfahrt sind es normalerweise von Cusco nach Puno, und die Busse fahren alle halbe Stunde. Nur nicht an jenem 1. Juli, an dem ich dringend von Cusco nach Puno reisen musste. Die Verkaufsstände der Busgesellschaften hatten geschlossen: Streik in Ayaviri, hiess es. Ayaviri ist eine Kleinstadt mitten auf der Strecke, und die Streikenden hatten die Strasse bei Ayaviri blockiert. Also kein Durchkommen möglich. Wie lange der Streik dauern würde ? Niemand weiss was Genaues. " Heute abend um 11 Uhr fährt der nächste Bus", verrät mir ein junger Mann. Am einzigen offenen Verkaufsstand drängelnd sich die Leute. "30 Soles bis nach Puno, und ohne Gewähr, ob wir weiter als Ayaviri kommen", gibt die Verkäuferin Auskunft. 30 Soles ist fast das Doppelte des normalen Fahrpreises - normalerweise mit Garantie, in Puno anzukommen. "Aber das Weiterkommen in Ayaviri ist kein Problem. Ihr steigt an der Sperre aus, lauft 2 Kilometer bis zum anderen Ende der Blockade, und da warten dann Busse, die nach Puno fahren". Nicht gerade eine tolle Aussicht, aber 2 Kilometer Fussmarsch sind noch erträglich, denke ich und schnappe mir eines der begehrten Tickets. In Voraussicht der nächtlichen Hochanden-Wanderung kaufe ich mir auf dem Schmuggelmarkt in Cusco noch ein paar Handschuhe zu 1 Euro (made in China), eine Alpacamütze zu 3 Euro und eine Taschenlampe made irgendwo in Asien. Zu dem Zeitpunkt bin ich noch zuversichtlich, dass ich bald und bei guter Gesundheit in Puno ankommen würde. Hätte ich es nur mal besser gewusst.....
Um 23 Uhr ist unser Bus abfahrbereit: ein Zweistöcker, der auch schon bessere Tage gesehen hat. Wie bessere Tage merken wir bald nach der Abfahrt in Cusco. Nach kaum 15 Minuten Fahrt hält er mitten auf der Strecke an. Die Tür zur Fahrerkabine bleibt abgeschlossen. Durch das Fenster sehen wir, wie der Chauffeur sich an einem Seitenteil des Busses zu schaffen macht. Nach 20 Minuten geht es wieder weiter. Das ganze wiederholt sich noch einige Male, so dass ich befürchte, dass der Bus es nicht mal nach Ayaviri schaffen wird, sondern schon vorher seinen Schnauf aufgibt. Inzwischen wird mir auch klar, dass an diesem Abend nur Seelenverkäufer-Busse die Strecke nach Puno fahren. Solche, die bei normaler Konkurrenz keinen Passagier anlocken können, die aber bei Streiks und anderen Notlagen ihr Geschäft wittern.

Meine Sitznachbarin Nery ist eine Studentin der Zahnmedizin aus Cusco. Morgen hat sie Prüfungen an ihrer Uni in Juliaca, der grössten Stadt Punos. Begeistert von der Aussicht auf den nächtlichen Fussmarsch ist sie nicht, aber auch nicht überrascht. Ein Streik mit Strassenblockade ist in der Gegend nicht unüblich. Wesentlich besorgter ist da schon der junge Mann, der uns gegenüber sitzt: um 7 Uhr Morgen hat er ein Busbillet, um heim nach La Paz zu fahren. Ober er den Bus wohl noch kriegen wird ?

In warme Decken gewickelt zuckeln wir im Bus über die Andenhochebene und doesen vor uns hin, als auf einmal Leben in unsere Fahrgemeinschaft kommt. Wir sind an der ersten Strassensperre angelangt. Es ist 2.30 morgens. Vor uns stehen drei Männer, hinter ihnen eine alte Tonne, in der ein wärmendes Feuer lodert. Die Strasse ist mit Felsblocken gesperrt. Eine Abordnung von 3 Passagieren verhandelt mit den Streikenden. Gegen einen Obolus - wir sammeln dafür - lassen sie ihre Streikgesinnung Gesinnung sein und lassen uns durch. Allerdings nur 1 Kilometer weiter. Dann ist endgültig Schluss. Eine lange Schlage von Lastwagen steht vor uns. Ihre Fahrer schlafen oder haben sich in die Büsche geschlagen. Nun beginnt also der Fussmarsch. Meine Nachbarin drückt mir noch ihre Decke in die Hand, und weg ist sie...... Zusammen mit einigen Rucksacktouristen aus Frankreich mache ich mich auf den Weg. Gerade bei dieser Reise habe ich meinen Rucksack zu Hause gelassen und mir einen Rollkoffer mitgenommen. Den darf ich nun auf der nächtlichen Strasse hinter mir herziehen, an der kilometerlangen Lastwagenschlange entlang. Es ist empfindlich kalt, einige Grade unter Null, nur Bewegung verhindert, dass ich vor Kälte schlottere. Vor uns eine weitere Blockade, dieses Mal steht eine Gruppe von rund 20 Männern auf der Strasse, in Decken eingewickelt debattieren sie untereinander. "Warum streiken Sie überhaupt ?" frage ich einen der Anführer. "Gegen die Umweltverschmutzung", antwortet mir der Mann mit den indianischen Gesichtszügen und , wie alle seine Mitstreiter, mit Mütze und Schal vermummt. "Wir sind Bürgermeister und Bauern aus der Gegend und sind dagegen, dass das Bergbauunternehmen Arasi unseren Fluss verschmutzt". Und was wollen sie konkret mit der Blockade erreichen ? "Wir haben mehrere Beschwerdebriefe nach Lima geschickt, aber niemand hat geantwortet. Wir wollen, dass das Unternehmen und der Bergbauminister mit uns redet und uns anhört". Der Dorfbürgermeister ist recht freundlich und freut sich, dass einer der Touristen sich für ihre Anliegen interessiert. Dennoch: ob man deswegen das Recht hat, eine Hauptverkehrsstrasse zu blockieren ? Ich stelle die Frage besser nicht und wünsche Ihnen statt desssen viel Erfolg beim Minister. Und ziehe meinen Koffer weiter über die Landstrasse. Inzwischen haben mich die anderen Passagiere weit abgehängt und ich bin morgens um 3 auf weiter Flur alleine unterwegs. Mein Arm schmerzt schon vom Kofferziehen, und kein Ende ist abzusehen. Kein Autos ist unterwegs, nicht einmal eines der hier ueblichen Dreiradtaxis. Aus dem Dunkeln taucht ploetzlich ein Fahrradfahrer neben mir auf. Er wuerde mich begleiten, sagt er. Und er koenne mich auf dem Fahrrad mitnehmen. Die Dreiradtaxis und alle anderen Fahrzeugbesitzer wuerden sich nicht heraustrauen, weil ihnen die Streikenden sonst die Reifen aufschlitzen wuerden.
Zuerst straeube ich mich gegen sein Angebot, aber der Weg nimmt kein Ende und mein Koffer wird nicht leichter. Schliesslich setze ich mich auf den Gepaecktraeger und wir fahren, ich den Koffer hinterherziehend, an anderen wandernden Passagieren vorbei. Nach rund zwei Kilometern ist Schluss. "Da gleich hinter der Ecke ist die Sperre und danach gibt es Buss", prophezeit mein Fahrrad-Chauffeur. Zusammen mit Indianerfrauen, die ihre Handelsware in Tuecher gewickelt auf dem Ruecken tragen, erklimme ich die Anhoehe bis zur naechsten Ecke. Dort wartet wieder ein Streikposten: dieses Mal muessen wir Passagiere uns die offiziellen Streikparolen anhoeren, bevor wir durchgelassen werden. Und dahinter -----weit und breit kein Bus, auch kein Auto, nicht mal eines der Dreiraeder, die sich sonst um die Passagiere reissen. Wir laufen weiter auf der fahrzeugleeren Strasse, was bleibt anderes uebrig. Nach rund drei weiteren Kilometern kommen wir an eine Mautstation. Izwischen ist es Morgengrauen, bitterkalter Morgengrauen. Eigentlich wunderschoen anzusehen, wie die ersten Sonnenstrahlen hinter dem Rauhreif sich hervorwagen. Wenn man dazu einen heissen Kaffee dazutrinken koennte und ein Fahrzeug danebenstuende. Aber nichts: 26 Kilometer sind es bis zum naechsten Dorf, und keiner der dortigen Chauffeure will uns an der Matustation abholen. Die Polizisten hier wissen von gar nichts und helfen auch nicht weiter.
Also laufen wir weiter: ein paar junge Leute haben sich inzwischen angefreundet und scheinen ueber den erzwungenen Fussmarsch nicht allzu traurig zu sein. Neben mir laufen zwei aeltere Frauen, Haendlerinnen, die ihre Ware aus Cusco auf dem Ruecken schleppen. "Schrecklich, aber was koennen wir tun ?" seufzt die eine fatalistisch. Wir ueberholen eine Mutter, die ihrem rund 8-jaehrigen Sohn zuredet, doch weiterzulaufen. Aber das Kind weit nur und weigert sich, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Fast abgestumpft laufe ich auch an ihnen vorbei. So aehnlich muss es auf einem der vielen Fluechtlingstrecks zugehen, die weltweit sich voranschleppen auf der Suche nach Frieden, Wasser, Land oder einfach einem besseren Auskommen. Auch ich komme mir langsam vor wie eine Ausgesetzte, ausgesetzt und verlassen auf einer leere Landstrasse auf 4000 Meter Hoehe in den peruanische Anden. Ploetzlich taucht vor uns, wie eine Fata Morgana, der Umriss eines Autos auf. Alle Mitmarschierenden streifen ihre Lethargie ab und rennen auf das Fahrzeug zu. Die haendlerinnen mit ihren vollgestopften Packtuechern, Kinder und Jugendliche: alles draengt sich in einen Toyota-Kastenwagen, eigentlich fuer 5 Personen gedacht. Nun sitzen sicher 10 Personen drin. Ich habe es leider nicht geschafft, mir einen Platz zu ergattern. Nach 10 Minuten kommt das naechste Fahrzeug, auch hier bin ich zu spaet, verdammter Rollkoffer, da kann ich beim Sturm auf das Auto einfach nicht mithalten. Aber immerhin funktioniert hier mein Handy. Juliaca, die naechste Stadt, ist noch gut 60 Kilometer entfernt. Ich rufe eine Freundin dort an, sei soll mir bitte aus Juliaca ein Taxi schicken, koste es was es wolle. Aber der freie Markt funktioniert heute nicht: kei Taxifahrer ist bereit, die Streikenden zu erzuernen und Steine in der Windschutzscheibe und aufgeschlitzte Reifen in Kauf zu nehmen. Also hilft nur: Weiterlaufen. Noch 20 Kilometer zum naechsten Dorf, dazwischen nicht mal ein Huettchen. Um 10 Uhr vormittags schafe ich es endlich, zusammen mit einem argentinische Touristen auf den Vordersitz eines der wenigen Taxis zu klettern. Den Inka-Trail habe er gemacht, meint der Argentinier. Nun bekommt er den Inka-Trail noch kostenlos als Nachschlag dazu, lache ich. In 20 Minutnen ist das Auto in Pucarà, ein kleines verschlafenes Staedtchen, das wegen seiner Keramikstiere ene gewisse nationale Bedeutung hat. Die Haupstrasse in Pucar¡a sieht heute aus wie nach dem Krieg: ueberall havarierte Passagiere, und kein Fahrzeug! Immerhin gibt es hier ein Restaurant und ich bekomme einen heissen Kaffee. Auch eine halbe Stunde spaeter, eine Stunde spaeter: kein Auto nach Juliaca. Ich frage die Gaststaettenbesitzerin schliesslich nach einem Bett. Sie solle mich bitte wecken, wenn der Streik vorueber sei. Nachmittags um 3 Uhr ist die schliesslich der Fall. Die Streikposten lassen Autos und Busse durch. Und auf einmal funktioniert das Geschaeft wieder: die Busbesitzer kommen aus ihren Loechern und buhlen um die Passagiere. Auf einer staubigen Erdstrasse fahren wir schliesslich auf einem Umweg nach Juliaca und um 6 Uhr nachmittags treffe ich schliesslich in Puno en. 20 Stunden war ich unterwegs fuer die 7-StundenStrecke. Gut 6 Stunden davon zu Fuss.

In Puno erfahre ich dann, dass die Bauern in Ayaviri sozusagen vorsorglich gegen die Umweltverschmutzung gestreikt haben. Das Bergwerk hatte erst vor drei Monaten seine Arbeit aufgenommen, aber die Bauern wollten sich gegen eventuelle zukuenftige Beschaedigungen ihres Wassers absichern. Kurz danach machten andere Bauern 4o Kilometer weiter die Strasse dicht: dieses Mal gegen die bereits bestehende Umweltverschmutzung durch informelle Bergleute. Der Minister kam schliesslich aus Lima angereist und tagte in Puno mit den Streikfuehrern. Anschliessend streikten die Lehrer und legten das Land fuer weitere Tage lahm. Ich konnte gerade noch mit dem Flugzeug Puno verlassen, zusammen mit dem Minister, bevor die streikenden Lehrer am anderen Tag die Flutlichter der Landebahn mutwillig zerstoerten.

Schule im Jahr 2037


Wenn ich bestimmte Zustände in Peru beklage, dann bekomme ich manchmal zur Antwort: "Wir sind hier eben nicht in der Schweiz". Als ob Peru nicht das Recht habe, Gerechtigkeit und Wohlstand anzustreben, für welche die Schweiz steht.

Nachfolgende Geschichte von Wilfredo Ardito ueber eine Schulutopie in den peruanischen Anden beschreibt genau das: Schweizer Zustände mit peruanischen, indianischen Hauptdarstellern.

Eine Provokation und eine Utopie ? Vor allem eine Aufforderung, sich mit der jetzt herrschenden Situation nicht abzufinden.


Peru: Schule im Jahr 2037, in irgendeinem Dorf der peruanischen Hochanden


Von Wilfredo Ardito Vega


- José Gabriel, lass jetzt den Computer. Gleich kommt der Schulbus und Du hast noch nicht gefrühstückt! – rief seine Mutter, während sie die Mikrowelle öffnete, um den warmen Orangensaft herauszuholen.

- Mama, ich gewinne gerade gegen meinen Freund aus Tibet!

- Lass ihn in Ruhe, Du weisst, dass er jetzt schlafen gehen muss!

José Gabriel nimmt eilig sein Frühstück ein, denn schon klingelt es an der Tür, welche sein Vater mit der Melodie aus dem Krieg der Sterne programmiert hat.

Er zieht seinen warmen Anorak an, den seine Eltern ihm im Kaufhaus Saga Falabella in Sicuani gekauft haben, denn draussen ist es 6 Grad unter Null. Dann setzt er seine Alpaca-Mütze auf, verabschiedet sich von seiner Mutter und rennt zum Schulbus.

- Allinllachu ? Wie geht es ? – begrüsst ihn Richard, der Busfahrer. Zu Beginn des Jahrhunderts, als José Gabriel noch nicht geboren war, war es bei den Bauern noch Mode, ihre Kinder mit englischen Namen zu taufen.

Der Schulbus fährt durch die kahle Hochebene und hält immer wieder an, um Kinder einsteigen zu lassen. Sie kamen früh in der Schule an und José Gabriel hatte noch Zeit für ein kleines Basketball-Match in der Turnahalle und sich im Waschraum mit lauwarmem Wasser zu duschen.

In seiner Klasse hatten alle Kinder indianische Gesichtszüge. Nur zwei weisse Kinder waren darunter. Es waren zwei Austauschschüler aus Lima. Sie waren gekommen, um ihr Quechua zu verbessern und um die Sonne im Hochgebirge zu geniessen, solange in Lima neblige Kälte herrschte.

Die erste Schulstunde war Geschichte Perus. Die Lehrerin fragte die Kinder in Quechua:

- Habt Ihr nachgefragt, wie Eure Eltern und Grosseltern früher gelebt haben ?

- Meine Mama sagt, damals haetten sie keine Heizung gehabt, sagt José Gabriel.

- Und auch keinen Strom und Solarenergie, ergänzt seine Sitznachbarin Kusi.

- Und in den Häusern gab es kein Bad, meint Cahuide.

- Und es gab auch keine Müllabfuhr, schreit Ollanta.

- Wie ekelhaft! – die kleine Chaska verzieht den Mund so erschrocken, dass alle loslachen.

- Das stimmt wirklich, Kinder – erklärt die Lehrerin. – Das Leben war damals sehr schwierig für die Bauern. Aber ging es allen Peruanern so schlecht ?

- Natürlich nicht – Inti, der Klassenprimus, meldete sich. – In den Städten an der Küsten lebten die Menschen besser. Einige hatten sogar hausangestellte von den Anden und behandelten sie schlecht.

- Sie mussten zu ihren Arbeitgebern „Herr“ oder „Junger Herr“ sagen und sie mit „Sie“ anreden – wusste José Gabriel, und benutzte die entsprechenden spanischen Wörter.

- Ich habe das Museum der Apartheid im Badeort Asia, kurz vor Lima, besucht. Es war sehr interessant – wusste Sinchi zu berichten, einer der beiden Besucher aus Lima. Langsam und bedächtig kamen ihm die schweren Quechualauta von den Lippen. – Dort bekommen die Besucher eine Schürze angezogen, damit sie nachfühlen könne, unter welchen Bedingungen die Hausangestellten damals arbeiteten.

Alle Kinder schwatzen auf einmal laut los und erzählten davon, wie sie das letzte Mal ihre Sommerferien in Asia, camaná und Paracas verbracht haben. Schliesslich rief sie die Lehrerin wieder zur Ordnung:

- Haben Euch Eure Eltern auch von den staatlichen Schulen erzählt ?

- Meine Eltern mussten mehrere Stunden laufen, um zur Schule zu kommen, aber ich glaube , sie lügen. Bei der Kälte wären sie ja erfroren! – meinte Huascar.

- Meine Mama und Papa haben das auch erzählt – fügte Kusi hinzu – Gab es damals wirklich keinen Schulbus ?

- Dann wäre es doch besser gewesen, sie hätten zu Hause mit Internet gelernt – warf Cahuide ein.

- Dummkopf, damals hatte niemand Internet zu Hause – machte sich Inti lustig, und alle lachten laut los.

- Eine Frage noch – sagte Gabriela, das Mädchen aus Lima – damals gab es Privatschulen, oder so ähnlich. Was war das ?

- Dort haben die Leute bezahlt, damit ihre Kinder Unterricht bekamen – erklärte die Lehrerin. – Damals musstest Du auch für die Medikamente in den Gesundheitsposten bezahlen.

Jedes Mal, wenn sie davon erzählte, wurden die Kinder still und ihre Münder blieben vor Staunen offen. Niemand wollte laut sagen, was alle dachten. Schliesslich traute sich Atahualpa, zu fragen: - Und was passierte, wenn man kein Geld hatte ? – Niemand antwortete, weil alle die Antwort wussten.

- Was ich nicht verstehe – José Gabriel meldete sich wieder - , warum die Leute in Lima so viel Geld zum Fenster rauswarfen, wie man es in den alten Filmen sieht, und warum es ihnen egal war, dass die Leute hier vor Kälte oder vor Hunger sterben.

- Frau Lehrerin, wie kam es dass sich das geändert hat ? – wollte Kusi wissen.

- Warum werden wir heute alle als Menschen gleich behandelt ? – legte Huascar nach.

- Warum weinen Sie ? – Chaska sah, wie über die Wange der Lehrerin eine Träne lief.

- Kinder, ich weine, wenn ich daran denke, was wir alles zu erleiden hatten und niemanden kümmerte es.

Oder vielleicht weinte die Lehrerin auch, weil sie und ihre Schüler nur Teil einer erfundenen Geschichte sind und niemand weiss, ob diese einmal wahr werden wird.

(übersetzt von Hildegard Willer)

Erklärungen für den Leser und die Leserin, welche Peru nicht kennen:

Das staatliche peruanische Schulsystem ist extrem schlecht, ganz besonders auf dem Land. Die Schulhäuser auf 3000 – 4000 Meter Höhe sind kalt und zugig, und oft nicht mal mit dem Nötigsten ausgestattet. Die Lehrer sind schlecht bezahlt und viele erscheinen unregelmässig zum Unterricht. Wer immer es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf eine Privatschule.

Obwohl ein Grossteil der andinen Landbevölkerung Quechua zur Muttersprache hat, wird dies in der Schule bis heute kaum unterrichtet. Quechua ist zwar offiziell zweite Landessprache, aber in der Hauptstadt Lima gibt es keine einzige Schule, in der peruanische Kinder Quechua lernen können. Kusi, Huascar, Ollanta, Chaska, Inti und Cahuide sind Quechua-Namen. Sehr wenige Kinder werden mit diesen Namen getauft.

Saga Falabella ist eine chilenische Kaufhauskette mit 3 oder 4 Filialen in Lima. In Sicuani, einer Kleinstadt von immerhin rund 30 000 Menschen, 3 Autostunden von Cusco entfernt, gibt es kein Kaufhaus.

Asia ist der Name eines elitären Badeortes südlich von Lima, bekannt durch seine rassistischen Praktiken gegenüber den indianischen Dienstboten. Im Januar diesen Jahres fand in Asia eine Protestaktion statt: rund 700 Männäer und Frauen verkleideten sich als Dienstboten und protestierten gegen die Diskriminierung.

Während ich diese Zeilen schreibe, sind die Menschen in Peru seit gut einer Woche auf den Strassen und protestieren gegen die Regierung. Obwohl die peruanische Wirtschaft ein seit Jahren anhaltendes Rekordwachstum aufzuweisen hat, deutet wenig darauf hin, dass aus unserer Geschichte bald einmal Wirklichkeit werden könnte.