jueves, 1 de noviembre de 2007

Tanz auf dem Grab























Für Edmundo León, der heute 60 geworden wäre, und der heute sicher in seinem Grab mitgetanzt hat

José M. Cartagena hat nur zwei Tage gelebt. Dies steht auf derTafel über seinem Grab. Jemand hat ein paar frische Blümchen zwischen die Steine gestellt, zum Gedenken an das "Engelchen", wie verstorbene Babies genannt werden.
Rings um das Grab von José M. Cartagena ist heute buntes Treiben. Es ist der 1. November in Lima, Allerheiligen, und die Migranten aus den Anden besuchen an diesem Tag ihre Verstorbenen auf dem Friedhof. "Nueva esperanza" - "Neue Hoffnung" heisst das Viertel weit ausserhalb Limas. Hier ruhen die Armen und Ausgestossenen, jene, die in der peruanischen Gesellschaft nicht anerkannt werden; hier, wo keine künstliche Bewässerung für grünen Rasen für die letzte Ruhe sorgt, sondern wo die Natur Limas unbeschönigt ihr Gesicht zeigt: karg, sandig, grau, wüst. An jenem 1. November ist der Friedhof von Nueva Esperanza dennoch voller Leben. Ganze Familien kommen hierher, um ihre Toten zu besuchen. Sie bringen ihnen Essen und Trinken mit, sogar Musik und Tänze. Um jedes Grab scharen sich Familienangehörige, lassen die Bierflasche kreisen und packen die vorgekochten Schmankerln aus. Vorzugsweise die Gerichte, die der oder die geliebte Verstorbene am liebsten hatte. Die Familie vor mir hat "nur" Bier mitgebracht. "Wir kommen hierher wegen unserer Grossmutter. Vor 17 Jahren ist sie schon gestorben", erzählt mir ein bereits leicht angetrunkener José.

Aber bevor mit den Verstorbenen getrunken und gegessen wird, muss ihre letzte Wohnstätte repariert und dekoriert werden. Farbeimer und Pinsel sind überall im Einsatz, Blumen werden herangeschleppt, Mauern für Mausoleen hochgezogen oder neu angestrichen. Die Toten sollen an ihrem Tag ein schönes Zuhause haben. Da ist für den einen oder anderen sogar ein kleiner Nebenverdienst drin, so wie für Wolfgang (er heisst tatsächlich so), ein junger Mann aus der Nachbarschaft, der seit ein paar Tagen mit dem Anstreichen von Gräbern sein Geld verdient. Gegen Nachmittag strömen immer mehr Leute auf den angeblich grössten Friedhof Lateinamerikas, der sich über mehrere Hügel erstreckt. Karrussels, Essens- und Verkaufsstände machen Allerheiligen zu einem Volksfest. Das es ja schliesslich auch ist - ein Fest mit den toten Angehörigen, das selbst die allertotesten Sinne wieder erweckt. Vor einigen Gräbern spielen ganze Musikkappellen die Lieblingsweisen der Toten und Lebenden. Sogar ein Scherentaenzer - ein "Danzante de Tijera" - samt Harfenspieler tanzt auf dem Grab seiner Grossmutter aus dem Departament Huancavelica. Der Scherentanz ist ein ganz besonderer Tanz, die männlichen Tänzer müssen Eingeweihte sein, es ist eine Art Schamanentanz, der sich dadurch auszeichnet, dass die Tänzer mit einer Schere in den Händen zum Rhythmus klappern, während sie akrobatische Sprünge vollführen. Ob die Oma im Grab das Scherenklappern wohl gehört hat ? Wenn nicht, dann lockt sie vielleicht der Duft des guten Essens, das auf ihrem Grab abgestellt wird. Neben den Liebslingsspeisen der Toten stehen da Brote in Kinderform - die sogenannten Tánta - Wawas - Blumen, Obst, Süssigkeiten und natürlich Bier, Kola und billiger Wein. Gegen Nachmittag, wenn das Essen ausgepackt und schon mehrere Bierflaschen herumgegangen sind, wird die Atmosphäre mehr als feucht-fröhlich.
Ob die Besucher des Friedhofs wohl auch beten für ihre lieben Toten ? In all dem sinnenfrohen Trubel, in den sich auch die eine oder andere Träne um einen jüngst Verstorbenen mischt, geht mir die Erinnerung an das, was wir in Europa Pietät vor den Verstorbenen nennen, vergessen. Dafür schleicht sich ein anderer Gedanke ein: wenn dereinst auf meinem Grab so viel getanzt, gegessen und gefeiert wird wie heute in Nueva Esperanza, dann ist der Tod vielleicht gar nicht so schlimm.