Beide haben den Tod schon als Kinder viel zu oft miterlebt; beide wissen wie es ist, wenn der Hunger alle anderen Sinne und Gedanken betäubt; beide konnten erst in späten Jahren ihre Schulbildung beginnen bzw. vollenden. Beide haben erst auf Drängen Dritter ihr Leben schriftlich niederlegt in zwei kleinen Büchlein, die im Dezember in Lima vorgestellt wurden. Die beiden Titel könnten unscheinbarer nicht klingen: „Erinnerungen eines unbekannten Soldaten“ von Lurgio Gavilán das eine ; „Kleine Mosaiksteine aus meinem Leben“ von Pilar Coll das andere. Hinter den nichtssagenden Titeln stecken zwei ausserordentliche Lebensgeschichten.
Mit 14 Jahren war Lurgio
Gavilán bei vielen Morden dabeigewesen und erwartete nun bange seinen eigenen
Tod. Eine Militärpatrouille hatte den Kind-Soldaten des „Leuchtenden Pfades“
1985 in den Bergen von Ayacucho gefangengenommen. Auch der ihm seit zwei Jahren eingehämmert Glaube, dass es eine Ehre sei, für Marx, Mao und vor allem für den
Kameraden Gonzalo alias Abimael Guzmán, den Anführer des „Leuchtenden Pfades“
zu sterben, verhinderten nicht seine Tränen angesichts der Gewehrkugeln, die
ihn gleich durchbohren würden. Es kam anders:
der Leutnant verschonte den Jungen und nahm ihn mit in die Kaserne. Mehr noch:
er schickte den damals nur quechuasprechenden und des Lesens und Schreibens Unkundigen
in die Schule. 10 Jahre lang wurde die
Kaserne zur Heimat Lurgios. Er selbst brachte es bis zum Instruktor der
Soldaten in der Aufstandsbekämpfung. So wie er als Kind die Gräueltaten des „Leuchtenden
Pfades“ miterlebte oder mit-ausführte,
war er Zeuge oder auch Mittäter der Grausamkeiten, die die Militärs
gegenüber Gefangenen und der Zivilbevölkerung begingen. Überraschend nahm das
Leben des jungen Soldaten eine weitere Wendung: 1995 trat Lurgio als Novize in
den Franziskanerorden ein. Auch dort war
das Leben – ähnlich wie beim Leuchtenden Pfad und der Armee – genau geregelt
und diszipliniert. Mit einem grossen Unterschied: wurde bei Guerrilla und Armee
eingebläut, den jeweiligen Gegner zu vernichten, so predigten die Franziskaner die
Verzeihung. Während seiner Zeit als Novize schrieb Lurgio Gavilán erstmals
seine Lebensgeschichte nieder. Nach drei Jahren bei den Franziskanern erkannte er, dass sein Weg nicht im Ordensleben lag und ging zurück nach
Ayacucho, wo er kurz darauf ein Studium der Ethnologie aufnahm.
Es ist nicht bekannt, ob
Lurgio Gavilán jemals Pilar Coll kennenlernte. Er hätte sie kennenlernen
können. Zum Beispiel im Juli 1987, als Pilar Coll in Ayacucho festgenommen
wurde, in derselben Stadt, in der Lurgio Gavilán damals als Soldatenkind die
Schulbank drückte. Pilar Coll hatte das im selben Jahr gegründete
Menschenrechtssekretariat übernommen und reiste ins damalige Notstandsgebiet
Ayacucho. 30 Stunden lang wurde sie von den Militärs dort gefangengenommen, und
wurde erst auf Druck aus Lima wieder freigelassen. Menschenrechte zu verteidigen
war in jenen Jahren ein Himmelfahrtskommando: misstrauisch beäugt sowohl von
der Guerrilla wie auch von der Armee,
gingen die meisten Menschenrechtsanwälte nur bewaffnet auf die Strasse.
Nicht so Pilar Coll: „Einen Leibwächter wollte ich nie haben. Wenn mich einer
meiner Kollegen fragte: „schaust Du auf die Strasse, ob Du was Verdächtiges
siehst, bevor Du das Haus verlässt ? – Nein. Schaust Du auf der Strasse, ob Dir
jemand folgt ? - Nein. Wechselst Du
Deinen Weg zum Büro ? – Nein.“ Erst im Nachhinein wurde Pilar Coll der Gefahr
bewusst, der sie als erste Generalsekretärin der Menschenrechtsverbände
ausgesetzt gewesen war. Ihr Auftreten
half ihr, dass selbst hohe Militärs sie respektierten. Denn bei der 1929 geborenen
Spanierin wusste man nie, ob man es mit einer Nonne oder mit einer katholischen Dame aus gutbürgerlichem Hause zu
tun hatte. Beides stimmt, und greift doch viel zu kurz .
Wie Lurgio Gavilán ist auch Pilar Coll ein Bürgerkriegskind. Ihre Mutter war
bei der Geburt eines der 7 Kinder gestorben; Ihr Vater, ein Grundbesitzer aus
Aragón, wurde von den republikanischen Garden ermordet, als Pilar Coll 7 Jahre alt war. Die Familie
durfte den Leichnam des Vaters nicht begraben, wurde aus ihrem Besitz verjagt, und lebte Jahre
des Schreckens und Armut. Est mit 21
Jahren konnte Pilar die Sekundarschule nachholen, danach studierte sie Jura in
Barcelona und trat in einen katholischen Laienorden ein, der sie 1967 nach Peru
schickte. Pilar Coll wurde schnell Teil der damals entstehenden Befreiungstheologischen
Bewegung und übernahm verschiedenste Aufgaben in der kirchlichen Sozialarbeit.
Als sie zur ersten Generalsekretärin der Menschenrechtskoordination ernannt
wurde, war sie 58 Jahre alt. Als sie das Amt an ihre Nachfolgerin übergab, war
sie 63 Jahre jung und fand eine neue Mission: sie betreute die Gefangenen im
Frauengefängnis, vor allem diejenigen, die aus politischen Motiven oft
langjährige Haftstrafen absassen. Keine Krankheit, keine Beschwerlichkeiten
konnten die alte Dame davon abhalten, ihre „Mädels“ im Gefängnis zu besuchen.
Beide Autobiographien
bestechen duch ihren schlichten Stil,
wie wenn der Autor bzw. die Autorin ihr eigenes Leben möglichst wenig
hervorheben wollen. Die Lebensgeschichten von Lurgio Gavilán und Pilar Coll
geben nicht nur Einblick in eine der grausamsten und zugleich so vielschichtigen Perioden des modernen Perus, sondern
hinterlassen die Leserin auch staunend und ermutigt zugleich: wie schafft es
eine Pilar Coll, deren Vater von den Kommunisten ermordet wurde, später in Peru
gerade jene Kommunisten unter Einsatz ihres eigenen Lebens zu verteidigen ? Wie
konnte der Ex- Senderist und Soldat Lurgio Gavilán Empathie und Solidarität
bewahren, obwohl er als Kind und Jugendlicher schlimmsten Gräueltaten
ausgesetzt war oder sogar selber begangen hatte ?
Die beiden Autobiographen
hüllen sich darüber in Schweigen. Einen
kann man noch fragen. Lurgio Gavilán lebt heute in Mexiko, wo er seine
Doktorarbeit in Ethnologie schreibt.
Pilar Coll war am 14.
September 2012 wie jeden Donnerstag im Frauengefängnis, als ihr übel wurde und
sie mit einem Blutgerinnsel ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Am Tag darauf sollte sie entlassen werden.
In derselben Nacht, im Alter von 83 Jahren und sechs Wochen nachdem sie ihre „Kleinen
Mosaiksteine aus meinem Leben“ fertiggeschrieben hatte, erlitt sie einen tödlichen Herzinfarkt.
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